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Allgemein

Buch-Rezension: Freiheit oder Anarchie?

– Wie das Internet unser Leben verändert-

Ein Buch von Björn Böhning und Alexander Görlach

Freiheit oder Anarchie?

Verändert das Internet unser Leben? Ja, und wie! Ein Leben ohne Internet ist inzwischen für viele undenkbar, vor allem bei der Arbeit. Dazu wollte ich mehr wissen. Denn täglich sind die meisten Deutschen online, vom Kind bis zum Rentner, mit immer weniger Unterbrechungen. Was macht das mit uns? Meine Umgebung ist zunehmend gehetzter, ständig meldet sich ein Smartphone in den Taschen meiner Gesprächspartner. Und es gibt die andere Seite des Internets: Ich kann mich ortsunabhängig jederzeit mit anderen verständigen und arbeiten. Ich finde leicht Informationen und Gleichgesinnte weltweit und kann mit Leuten in Kontakt treten, die früher von ihrem Vorzimmerdrachen abgeschirmt wurden. Das ist eine neue Art von Freiheit. Ist es die digitale Revolution? Das kleine Buch ist bei dem breiten Thema nicht allumfassend und doch insgesamt eine Überraschung. 

Denn die beiden internetaffinen Autoren Böhning und Görlach antworten aus 2 Perspektiven auf 10 verschiedene Fragen wie:

  • Von der Demokratie zur Internet-Volksherrschaft?
  • Steht das GuttenPlag für das Gute im Netz?
  • Ist Facebook die neue Religion?

Da es 2 Autoren sind, gibt es auf jede Frage auch 2 Antworten. Das ist schön für den Leser, da es mehr Stoff zum Nachdenken gibt. Die unterschiedlichen Perspektiven der Autoren ergeben sich weniger aus pro und contra Internet sondern mehr aus ihren unterschiedlichen politischen Grundpositionen.
Björn Böhning argumentiert als linksorientierter SPD-Politiker, Alexander Görlach als konservativ orientierter Journalist und Herausgeber von
The European. Am Ende des Buches finden sie zu einem gemeinsamen Fazit, jenseits der Anarchie.

Beide liegen in ihren Ansichten gar nicht so weit auseinander, was die Bedeutung des Internets betrifft. An manchen Stellen kommen die Ausführung zwar etwas parteipolitisch daher, v.a. Beim Thema Erwerbsarbeit. Insgesamt ist es ein durchaus philosophisch-politischer Diskussionsansatz und das muss er in dieser Fragestellung auch ein stückweit sein, denn, wer kann schon in die Zukunft sehen?! Sehr häufig bringen die Autoren die Sache auf den Punkt und benennen die Baustellen der digitalen Gesellschaft. Ich will hier nicht alle Thesen zitieren, nur einige Themen herausgreifen.

Beispiel Werte
Björn Böhning schreibt: „In der digitalen Welt erleben wir ein völlig neues „Setting“ von Werten,…“ denn „…Das Wesen des Internets ist die Kopie.“ (S. 37) Das bedeutet, die Sicherung des Urheberrechts ist in der gewohnten Weise nicht mehr durchsetzbar. Das rührt an die Grundfesten unserer Gesellschaft, denn „das Eigentum ist zweifelsohne die Grundlage kapitalistischer Gesellschaften.“ (S.36) Und gleichzeitig lassen sich „…soziale und kulturelle Normen in der digitalen Gesellschaft (…) nicht zurückdrehen.“ Hier besteht dringender Verhandlungsbedarf zwischen allen Akteuren. Ein wichtiger Punkt in der Argumentation war für mich noch, dass in der digitalen Welt andere als materielle Werte einen hohen Stellenwert haben wie „die Freiheit der User“. Das unterstreicht auch
Alexander Görlach, dass die Werte der digitalen Gesellschaft vor allem immateriell und „…die Ordnungskräfte der analogen Welt…“ nicht mehr „…in der etablierten Weise…“ greifen. Sein Ansatz an diesem Punkt ist, dieses Dilemma nicht mit Gesetzen zu regeln sondern durch „Ethos und Moral einer Gesellschaft“ (S. 32), was ich an dieser Stelle für sehr schwammig halte, da ja seit langem konkreter Handlungsbedarf in puncto Urheberrecht besteht. Sehr gut fand ich dagegen Görlachs Feststellung, dass der „größte Wert in der neuen Welt der digital getriebenen Gesellschaft“ das „Streben nach Wissen“ ist. „Durch das Internet haben sich alle Maßgaben des Wissenserwerbs, der Wissensvermittlung und der Wissensweitergabe verändert.“ (S. 34) und das mit „…ungeheurem Einfluss auf die alltäglichen Kulturtechniken.“

Beispiel Arbeit:
Zum Thema Erwerbsarbeit schreibt Görlach als Gründer des Internet-Start-ups „The European“, dass das Arbeiten in Start-ups die klassische Erwerbsarbeit auflöst. Es ist die zukunftsweisende Form der Arbeit, denn: „Wir verbrauchen wenig Energie beim Produzieren, wir benötigen weniger Platz, aber wir brauchen die besten Köpfe.“(S. 44) Da kann ich als Selbständige und Beraterin vieler Start-ups nur freudig mit dem Kopf nicken und ergänzen: Selbständiges Arbeiten kann ungeahnte Ressourcen für die Gesellschaft öffnen, wenn in Erwerbsarbeit Gebundene Freiraum für ihre Ideen bekommen. Die digitale Gesellschaft bietet dafür neue und vor allem erschwingliche Chancen, die es von staatlicher Seite noch mehr zu erkennen und zu nutzen gilt.
Björn Böhning nimmt dazu schon aus sozialdemokratischer Sicht eine ganz andere Position ein. Er kann sich dieses Modell nicht als brauchbares Modell für den Rest der Arbeitswelt vorstellen – ist es wohl auch nicht. Er verteidigt die alten Regeln des Mitarbeiterschutzes und kritisiert die Kultur der kurzfristigen Jobs und Praktika in der neuen Arbeitswelt sowie die unsichere Zukunft. Leider münzt er das „Die Freiheit war nie so groß!“ von Alexander Görlach um in ein: „Die Freiheit, am Wochenende, in der Nacht und im Urlaub zu arbeiten, war noch nie so groß.“(S.50)
Gegenfrage: Wenn man für eine Sache wirklich „brennt“, will man das vielleicht?

  • Und ist es nicht für jeden Arbeitenden wünschenswert, dass er für seine Arbeit brennen darf?
  • Wünschenswerter als 9to5 zu funktionieren, möglichst ohne Nachdenken die Vorgaben vom Chef erfüllt und pünktlich zum Feierabend fällt der Bleistift aus der Hand?
  • Besser für eine moderne Gesellschaft, die von motivierten Erwerbstätigen getrieben wird als viele bindet, die auf Unterstützung angewiesen sind?

Beispiel Demokratie
Ist die Demokratie noch handlungsfähig angesichts sich verflachender Hierarchien, mehr Teilhabemöglichkeiten und Kampagnenkraft der „Masse“? Alexander Görlach schreibt: „Der Druck auf die politischen Prozesse oder Entscheidungen erhöht sich durch das Netz, denn die Meinungs- und Positionenvielfalt (…) spiegeln sich alle dort.“ (S. 21) Es gibt hier eine „…kulturelle Übermacht der Jungen…“, zum Glück, muss man sagen, angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft. Allerdings lässt er das Drücken des „Gefällt-mir-Buttons“ nicht als politische Beteiligung gelten. Deshalb der Schluss: „Bei der Beteiligung des Bürgers (…) wird das Web eine Rolle spielen, aber nicht die entscheidende.“ (S. 25) Björn Böhning wird am Beispiel der Proteste um den Bahnhofsbau in Stuttgart deutlicher. Demokratie braucht Entschlusskraft, um handlungsfähig zu bleiben. Das bedeutet, wenn die demokratischen Diskussionsgremien durchlaufen sind, muss eine Entscheidung möglich sein, damit Politik sich nicht selbst blockiert. Deshalb formuliert er die Forderung: „Es wird in Zukunft nötig sein, die Bürgerinnen und Bürger (…) früher in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.“ Das wird den politischen Prozess verlangsamen, allerdings mit der Konsequenz, „…dass Entscheidungen glaubwürdiger und mit höherem Vertrauen legitimiert werden.“ (S. 31)

 

Es gibt viele gedankliche Fundstücke in dem Buch und ich hoffe, dass die Diskussion der beiden weitergeht!

 

 

 

 

 

 

 

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